Zettels Traum. Papier im Anmarsch. Was der späte Matisse mit seinen Scherenschnitten angezettelt hat, ist jetzt groß im Kommen. Papier geht als plastischer Werkstoff durch.

Weiß, flach, rein, unberührt, geradezu unschul­dig – ein leeres Stück Papier. Ob es um Schriftstellerei geht, um kindliche Kreativität, Telefonkritzelei oder hohe Kunst: So wie es am Anfang des schöpferischen Akts steht und zugleich gierig auf ­seinem Anspruch auf ein Ende insistiert, birgt dieses Stück Materie jede Menge Sprengkraft. Bei aller Leichtigkeit – in so einem Blatt stecken zumindest Ideen drin, wenn es hoch hergeht, auch ein ganzes Werk. Keine klassische Skulptur, der nicht jede Menge Skizzen zugrunde liegen würden.

Kein Gemälde ohne Vorzeichnungen. Und fallweise vollenden sich in der Hinwendung zum fragilsten aller Materialien auch ganze Kunst-Geschichten. Dass Papier als eigenständiger Werkstoff eingesetzt wird, ist allerdings eine Entwicklung der Moderne. Henri Matisse wandte sich als einer der Ersten – eigentlich, weil er krankheitsbedingt nicht mehr malen konnte – in seinem revolutionären Spätwerk dem Papier zu.

Seine teilweise wandfüllenden Scherenschnitte aus den 1940er-Jahren stellten einen radikalen Befreiungsschlag dar, indem sie das einfachste und ursprünglichste aller Materialien mit Farbe und Raum in Beziehung setzten und so einen Bogen zwischen Malerei, Zeichnung und Skulptur schlugen. Zugleich erlaubte die geradezu kindliche Technik Matisse, ganz im Sinne der Moderne, die Befreiung von jeglichem intellektuellen Ballast. „Ich möchte mit der Schere zeichnen. Ich will das Leben mit den Augen eines Kindes sehen. Ich möchte direkt in die Farbe hineinschneiden“, sagte er. Die Scherenschnitte von Matisse leiteten eine Entwicklung ein, die zuerst der Erneuerung der Malerei Vorschub leistete. Denn für die Nachfolgegenerationen zählte, dass es gelungen war, das fragmentierte Bild in den Raum zu katapultieren – ein Ansatz, dessen Radikalität die Nachkriegsmodernen aufgriffen, allen voran die amerikanischen Farbfeldmaler: Ellsworth Kelly etwa, der seine Bilder aus einzelnen Monochromien zusammensetzte.

Derweilen harrten die „Papierarbeiter“ weiterhin auf der stillen Seite aus. Denn obwohl das Cross-over der Gattungen und Techniken seit einem Jahrhundert ein heißes Thema des Kunstdiskurses ist, schlug das Pendel unterm Strich zugunsten der Malerei aus.

Sinnliche Herausforderung. Dass sich heute die Zeichnung klammheimlich einen fast gleichrangigen Stellenwert erkämpft hat, ist eine mittlere Sensation. Lohn der Geduld? Sicher. Aber auch das Platzen des Kunstmarkt-hypes und die Sehnsucht nach realistisch ausgepreister Kunst scheinen beim Publikum ihren Niederschlag in konzentrierten, aber sinnlichen Positionen gefunden zu haben. Die Durchbrechung von Erwartungen ist damit zu einem zentralen Thema geworden. Zumal das Papier, das wie schon bei Matisse sowohl Bildträger als auch Material sein kann, mit seinem so fragilen wie zeichenhaften ­Charakter für Betrachter und Künstler eine besondere Herausforderung darstellt.

(…)> Andreas Kocks

Papierbotanik. Explosivität und Dynamik – diesen Eindruck erwecken auch die im Durchmesser bis zu mehrere Meter großen, raumgreifenden Objekte Birgit Knoechls mit ihrer floralen Anmutung. Tatsächlich ist das Vorgehen der 34-jährige Wienerin, die bei Hubert Schmalix Grafik studiert hat, ein konzeptuelles. Die filigran mit dem Stanleymesser zugeschnittenen, in mehreren Vorgängen mit schwarz-weißer Tusche bemalten Module, die Zimmerecken und ganze Räume okkupieren, zitieren real existierende pflanzliche Strukturen: „Zum Beispiel Neophyten, Epohyten, Hybride und Rhizome“, listet die botanisch versierte Künstlerin einige Vorbilder auf. „Das kann man dann auch extrem politisch lesen, muss es aber nicht. Es ist wie bei einem Rorschachtest, in den man selbst viel hineininterpretieren kann.“ Und obwohl sie so wissenschaftlich daherkommen, lösen sich die Objekte in der Begegnung in flirrender Sinnlichkeit auf.

Gegenläufig dazu buchtet Anna Schreger (die zurzeit übrigens gerade mit Birgit Knoechl im Badener Kunstverein ausstellt) die „Flachware“ Zeichnung durch filigrane, eingeschnittene und eingesteckte Zusatzelemente fast unmerklich in den Raum aus. Dabei koppelt sie sie mithilfe von absurden Werkzeugen oder Gerätschaften rückwirkend an den menschlichen Körper, der, stets aufgelöst in feinlinige Fragmente, den plastischen Ausgangspunkt ihrer Arbeit bildet. Schon der Witz, mit dem Schreger den Körper von Kopf bis Fuß durchdekliniert, heischt nach Aufmerksamkeit. Baumarkt und Wellnessindustrie fallen da in eines, was sich formal in einem spielerischen Umgang mit Original, Kopie und Reproduktion niederschlägt.

(…)>Manuel Gorkiewicz

Johanna Hofleitner, Die Presse (Schaufenster), 09.01.2009